Es gibt keinen Zeitpunkt, zu dem der Goldene Tempel bzw. das Harmandir Sahib geschlossen ist. Rund um die Uhr öffnet dieser heilige Ort in der Provinz Punjab seine Pforten für Pilger und Pilgerinnen. Der Gesang scheint mit einem Mal ein tiefes Blau heraufzubeschwören, das zeitweilig das Schwarz des Himmels zerreißt, um dann doch dem Sonnenlicht zu weichen. Unsere nackten Füße berühren den wunderschönen Marmorboden und unsere Augen fixieren das Herz der Anlage, einen Tempel, dessen Gold sich im Wasser des Amrit Sarovar Sees spiegelt. Und ja, in Amritsar können kleine, künstlich angelegte Wasserbecken zu Seen werden, wenn das Weiß des Marmors mit dem Blau des Himmels und dem Gold des Tempels zu einem einzigen Traum verschmelzen. Die makellose Schönheit des Tempels, die nicht zu ignorierende Spiritualität, die diesem Ort innewohnt und seine offenherzigen Menschen lassen den Goldenen Tempel von Amritsar als einen der friedvollsten Orte der Welt erscheinen. Vergessen ist das Blut, das schon lange vom strahlend weißen Marmor weggewaschen, vergessen ist das Leid, das durch diese Mauern des Heiligtums gedrungen. Auf der Oberfläche sind keine Narben mehr zu sehen von dem Massaker, welches hier vom indischen Militär 1984 verübt wurde. Die Operation „Blauer Stern“ forderte auf Befehl von Indira Gandhi das Leben von abertausenden Menschen.
Gemeinsam mit den Sonnenstrahlen steigt die Zahl an Gläubigen, die im Amrit Sarovar ein Bad nehmen. Tag für Tag finden Sikhs aus der ganzen Welt ihren Weg nach Amritsar, um wenigstens einmal an diesem heiligen Ort gewesen zu sein. Das rituelle Bad im Amrit Sarovar ist für viele fester Bestandteil der Pilgerschaft. Während die Männer dabei einen Teil ihrer Turbane abnehmen, sind die Dolche, die sich unter diesen meisterlichen Kopfbedeckungen verbergen, deutlich zu erkennen. Als gläubiger Sikh einen Dolch bei sich zu tragen ist weniger eine Drohgebärde und mehr ein Symbol dafür, dass Sikhs immer die Armen, Schwachen und Unschuldigen beschützen werden, wenn sie in Not sind. Die Pilgerschaft ist nicht komplett ohne ein gemeinsames Essen der Gläubigen in der weitläufigen Essenshalle. Ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn und die feste Überzeugung so ein guter Sikh sein zu können, sorgen dafür, dass Massen an Freiwilligen Teller abwaschen, eine unüberblickbare Zahl an Chapatis produzieren, für Ordnung und Sauberkeit sorgen. Auch die hungrigen Mäuler von Reisenden werden hier auf Wunsch gestopft. Niemand wird hier ausgeschlossen, sodass selbst eine riesige Kantine einen dezenten Zauber zu versprühen mag. Mit einem Lächeln auf den Lippen heißen die Sikhs Reisende willkommen und auch der Großvater, der mit seinem Enkelkind eines der ersten rituellen Bäder nimmt, hat ein breites Lächeln für uns übrig. Das chaotisch laute Indien scheint den Goldenen Tempel und sogar die Stadt Amritsar selbst nicht erreichen zu können und macht einer herrlichen Stille Platz – unterbrochen einzig von dem stimmungsvollen Gesang der Sikhs.
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Priska Seisenbacher & Andreas Schörghuber |